"... und ich möchte

leben bis zuletzt!"

Spielregeln

Fast immer sitzt er im Gemeinschaftsraum.

Das erste was mir an Herrn M.auffällt sind seine großen dunklen Augen. Sie gewähren still und offen Einblick in sein inneres Erleben. Es wird über Monate ein vertrauter Anblick, Herrn M. Mensche ärgere dich nicht spielen zu sehen. Immer wieder mal spiele auch ich einige Runden mit ihm. Er spielt gut, pfuscht auch gerne und dies, darauf angesprochen, mit Humor.

In den Wochen um Weihnachten herum wird an seinem Spiel deutlich, dass seine Fähigkeiten mehr und mehr schwinden. Anfangs passe ich das Spiel an, sage zum Beispiel die gewürfelten Zahlen laut und zähle laut beim Setzen unserer Figuren, so dass er seine leichter am passenden Feld absetzen kann. Beharrte er darauf, mehrfach zu würfeln und zu setzen, dann mache ich dasselbe, übersieht er Rauswippchancen, dann übersehe ich die nächste meinerseits - und so werden unsere Spielrunden immer wunderlicher. Allmählich scheinen die Spielregeln auseinanderzufallen, es gibt Pausen, Umkehrungen,Verdrehungen....

Zur gleichen Zeit wird das Trinken schwieriger. Auch hier gehen ihm die "Spielregeln" verloren. Er behält einen Schluck im Mund, bewegt ihn manchmal hin und her, "findet" aber das Schlucken nicht mehr. Manchmal setzen sich der Pfleger oder die Schwester ihm gegenüber und trinken etwas mit demonstrativ deutlichem Schlucken. Das hilft ihm, den Schluckvorgang "wiederzufinden".

Ich freue mich über diese freundliche, sanfte Hilfe. Und ich bin traurig. Denn der Verlust der Fähigkeit zu schlucken, kündigt seinen nahen Tod an. Das tut mir weh, auch wenn ich für ihn froh bin, dass er hier friedlich sterben darf.

Beim ersten Besuch im neuen Jahr ist der Gemeinschaftsraum leer. Herr M. ist tot.

Dat erste Mal

Im Gemeinschaftsraum beginnt die Adventsfeier und die Schwestern bitten mich bei Frau E. Sitzwache zu halten. Sie ist sehr unruhig und vor kurzem aus dem Bett gefallen beim Versuch aufzustehen, was sie nicht mehr kann. Frau E's Bett ist jetzt ganz niedrig eingestellt, mit einer großen dicken Matte davor, und vielen Kissen, so dass sie nicht fallen kann. Froh und dankbar bin ich, dass auf diese sanfte und respektvolle Weise sichergestellt wird,  dass sie sich nicht verletzt - ohne ihre Freiheit einzuschränken.

Frau E. stöhnt und ist unruhig. Sie ist in ihrer eigenen Wirklichkeit und bittet mich wieder und wieder ihr zu helfen: Sie müsse aufstehen, sie müsse in die Arztpraxis, sie müsse zur Apotheke, sie müsse dahin, sie müsse doch dahin und wisse nicht wie....

Ich erinnere mich an Albträume in denen ich unbedingt irgendwo hin muss ohne zu wissen wie - große Not! Schließlich sage ich zu ihr: "Frau E., sie werden gebracht!" Frau E. beginnt kurz darauf wieder zu fragen wie sie dahin komme und dann: "ach ja, isch werd jebracht!" in ihrem bönnschen Dialekt und wird ruhig. Kurz darauf, noch immer in ihrer Welt, stöhnt Frau E. laut, seufzt und klagt, sie hält meine Hand ganz fest, für lange Zeit. Dann wird sie ruhiger, öffnet die Augen, schaut mich an und sagt: "Sie müssen entschuldijen, dat ist für misch dat erste Mal..."

Ich bin gerührt und denke- ja Frau E., wenn meine Zeit des Sterbens gekommen ist, dann ist es auch für mich dat erste Mal.

Licht und Schatten

Herr E. ist am Morgen gestorben erfahre ich bei meinem Besuch im Hospiz. Es sei ihm in den letzten Tagen sehr schlecht gegangen, seine Frau war am Abend vorher lange bei ihm...

Ich bin erschrocken, traurig....

setze mich in den Raum der Stille...

...und ich bin beleidigt merke ich nach einer Weile. Frau E. hatte meine Telefonnummer , mich aber nicht angerufen. Ich schäme mich für dieses Beleidigtsein, weiß doch wie schwer ihr der Abschied fiel und wie überwältigt und paralysiert sie wahrscheinlich ist.

In Herrn E's leerem Zimmer stehen der Olivenholzengel, die Holzkugel und die LEK-Kerze zur Abholung bereit. Ich mache die Kerze an. Den Engel hatte Herr E. sich vor meinem Urlaub als Mitbringsel gewünscht. Ich habe dann dort schließlich über Dimitri's kleinen Andenkenladen einen alten Schreiner gefunden, der einen Engel für Herrn E. aus Olivenholz schnitzte. Ich solle ihm ausrichten, dass der Engel ihn umfasse mit seinen großen nach vorne gewölbten Flügeln sagte mir Dimitris. Dann legte er eine Holzkugel dazu und sagte:"Die ist von mir für Herrn E.. Sagen Sie ihm, dass jetzt noch zwei Menschen mehr an ihn denken.

Als ich nach dem Urlaub zu Herrn E. komme heißt es, er könne jeden Moment sterben. Ich setze mich zu ihm, er schaut mich ohne Zeichen des Erkennens mit halb geschlossenen Augen an. Ich erzähle ihm, dass ich den Engel mitgebracht habe. Herr E. reagiert und versucht die Figur aus der Tüte zu holen, ich muss ihm dabei helfen. Dann hält er den Engel und sagt: "Machense mal das Licht an!" Er schaut ihn an, befühlt ihn und sagt wie sehr er sich darüber freut. Dann überlegt er, wo der Engel stehen soll und plaziert ihn vorsichtig auf seinem Betttisch. Auch die Kugel hält er lange in der Hand, fragt um ein Schälchen und lässt sie lange darin rollen, erzählt dabei, dass er als Kind so eine Kugel hatte. Das war vor sechs Wochen....

Jetzt leuchtet die Kerze vor dem Engel im leeren Raum.

Zehn Tage später singen wir im Hospiz. Beim dritten Lied kommt Frau E. dazu. Wir umarmen uns, singen gemeinsam und sie erzählt in den Singpausen von den letzten Tagen mit Herrn E.. Sie war immer bei ihm in den letzten drei Tagen und hat ihm in der letzten Nacht gesagt, dass sie ihn loslassen kann, dass er unbesorgt sein könne, sie würde es ohne ihn schaffen,dass sie ihn liebe.

Sie habe es nicht mehr geschafft mich anzurufen, aber gewusst, dass sie mich hier beim Singen treffen werde. Jetzt wird mir klar, dass ich Hospizbegleiterin auch zurücktreten muss, dass das Sterben ein ganz intimer Prozess von den nahen Angehörigen und dem Sterbenden sein kann, wo ich dann nicht hingehöre. Es ist im Laufe der Wochen und Monate eine Beziehung zu Herrn E. entstanden. Er war einmal regelrecht mürrisch als bei einem Besuch seine Frau dazu kam und ich viel mit ihr sprach. Ich muss darauf achten, bei der Begleitung Eifersucht und Sehnsucht, "Wichtig-sein-wollen" und Besitzansprüche genau im Auge zu halten. Es ist notwendig, die Angehörigen in die Begleitung einzubeziehen und zurückzutreten, wenn meine Beziehung zum Sterbenden die Beziehung der nahen Angehörigen zueinander belasten könnte.

Frau E. und ich gehen nach dem Singen gemeinsam durch den Park runter zu den Autos. Sie schenkt mir einen kleinen Glasengel "von den E's" und bedankt sich für meine Begleitung ihres Mannes. Sie wird mich anrufen wenn sie weiß, wann die Beerdigung sein wird.